TRIGGERWARNUNG: Wir schreiben in diesem Beitrag über psychische Gewalt. Das kann retraumatisierend und triggernd wirken. Mach dir kurz Gedanken, ob du diesen Redebeitrag (jetzt gerade) lesen möchtest und kannst.
Der folgende Text ist in einer Arbeitsgruppe zu patriarchaler Gewalt entstanden und wurde als Redebeitrag auf unserer Demonstration am 7. März gehalten.
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Ursprünglich wollten wir heute Zahlen nennen, wie viel patriarchale Gewalt wann und wo genau passiert ist in den letzten Jahren. Doch dann ist uns aufgefallen, wir kennen diese Zahlen, und ihr vermutlich auch. Wir kennen die Gewalt. Nicht nur, weil wir immer wieder darüber reden. Nein, weil viele von uns sie täglich erleben.
Und diese patriarchale Gewalt passiert nicht nur auf der Straße, in der Öffentlichkeit, wenn uns wieder einmal ein Typ hinterherpfeift oder wir angepöbelt werden, weil wir nicht in die binäre, cis-geschlechtliche Schublade passen. Nicht nur, wenn wir auf Konzerten von anderen Menschen ungefragt angefasst werden, sondern vor allem in unserem nahen Umfeld.
Das Private ist politisch! Dieser Satz wird so oft gesagt, aber wie oft handeln wir wirklich danach und sprechen in unserer politischen Arbeit offen und ehrlich übers Private und Beziehungen? Und wie oft sprechen wir über Gewalt in unseren eigenen Beziehungen??
Wir haben mittlerweile in unserer Arbeitsgruppe viel zu körperlicher Gewalt gearbeitet und auf Demos darüber gesprochen. Psychische Gewalt, gerade auch in romantischen Beziehungen, war bis jetzt eher eine Randnotiz in unserer Auseinandersetzung mit patriarchalen Gewaltstrukturen. Vermutlich auch deswegen, weil sie im ersten Moment deutlich weniger wahrnehmbar ist.
Aber: Wir selber kennen Beziehungen in denen psychische Gewalt ausgeübt wird – sowohl unsere eigenen als auch die unserer Freund*Innen. Und wir müssen darüber reden, auch wenn das unangenehm und vielleicht mit Angst und Scham verbunden ist.
Deshalb wollen wir erstmal eine gemeinsame Basis schaffen und ein paar Begriffe einführen, die vielleicht noch nicht alle kennen.
Psychische bzw. emotionale Gewalt beschreibt alle Formen der emotionalen Schädigung und Verletzung einer Person. Hierzu zählen: “Beschimpfungen, Abwertungen und Diffamierungen, was der Zerstörung des Selbstwertgefühls des Opfers dient. Mit der Zeit wird der Glaube an den eigenen Wert, die Identität und die eigenen Empfindungen zunichte gemacht.” Sowohl Drohungen und einschüchterndes oder kontrollierendes Verhalten als auch verbale Erniedrigungen, Beschuldigungen und Mobbing sind Dimensionen von psychischer Gewalt. Emotionale Gewalt tritt häufig in Kombination mit extremer Eifersucht, Kontrolle und Dominanzverhalten auf. Die gewaltausübende Person stellt zudem häufig Behauptungen über die betroffene Person auf, um von den eigenen Taten abzulenken und das Opfer „zum Problem zu machen”.
Eine Form der psychischen Gewalt, über die mittlerweile vermehrt gesprochen wird, ist „Gaslighting“. Gaslighting basiert auf Manipulation der betroffenen Person, aber auch des direkten Umfelds dieser. Durch eine Vertrauensperson, häufig der*die Partner*in wird der betroffenen Person die eigene Wahrnehmung systematisch und wiederholend abgesprochen und das Selbstwertgefühl zerstört. Typische Sätze sind z.B. „das habe ich gar nicht gesagt/getan“, “Ich will auch in meinen Bedürfnissen gesehen werden” und „das hast du nur falsch verstanden“. Auch dazu gehört, dem Opfer die Schuld an Konflikten zu geben, Worte im Mund umzudrehen, Fähigkeiten abzusprechen, sozial zu isolieren, und Freund*innenschaften beispielsweise so zu manipulieren, dass auch die Freund*innen der betroffenen Person nicht mehr vertrauen.
Studien zeigen, dass fast die Hälfte aller befragten Frauen bereits durch Partner oder Expartner psychische Gewalt erlebt haben. Die Studien zur Erhebung dieser Gewalt sind leider binär-geschlechtlich aufgebaut, sodass wir nicht genau wissen, wie Gewalt gegen Menschen in Beziehungen aussieht, die sich nicht in binäre Geschlechter einkategoriesieren. Auch polyamore Beziehungen werden oft nicht mit einbezogen. Gerade deswegen liegt die Verantwortung bei uns, uns mit den vielfältigen Gewaltstrukturen in Beziehungen auseinander zu setzen.
Auch der Begriff der toxischen Beziehungen ist mittlerweile deutlich verbreiteter, doch was heißt das eigentlich? Die Definition ist nicht so richtig klar und reicht von “aus einer unglücklichen Beziehung nicht loskommen und sich an den wenigen positiven Momenten festhalten” bis hin zu “in einer Partner*innenschaft mit einer Person mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung zu sein”.
Toxische Beziehungen sind durch Abhängigkeiten geprägt und meist durch ein starkes Ungleichgewicht zwischen den Partner*innen gekennzeichnet. Sei es wer Recht hat in Diskussionen, wessen Bedürfnisse im Fokus stehen, wessen Erwartungen erfüllt werden müssen, wessen Laune den Tag beeinflusst, wessen Arbeit und Leben stärker gewichtet wird, … .
Auch passiv-aggressives Verhalten ist Ausdruck psychischer Gewalt. Es zeigt sich häufig durch Spott und Sticheleien. Das führt bei der betroffenen Person zu Angst vor den Reaktionen ihrer Partner*innen und zu Vermeidungsverhalten vor Auseinandersetzungen, denn auch die eigenen Unsicherheiten können in so einer Beziehung gegen die hier vermeintlich “schwächere” Person genutzt werden.
Gaslighting ist oft auch Teil einer toxischen Beziehung, ebenso wie leere Versprechungen, mangelnde Entschuldigungen, unvorhersehbares Verhalten und fehlende emotionale Nähe.
Oftmals greifen verschiedene Formen von Gewalt ineinander. Psychische Gewalt geht oft z.B. auch mit Stalking oder Körperlicher Gewalt einher.
Und Psychische Gewalt ist meistens schon lange da, bevor diese von der betroffenen Person oder ihrem Umfeld wahrgenommen und als Gewalt erkannt wird. Erste Anzeichen sind häufig Grenzverletzungen und Grenzüberschreitungen. Anders als körperliche Gewalt hinterlässt psychische Gewalt keine sichtbaren physischen Wunden. Sie wird oft weniger wahrgenommen, aber ist dadurch nicht weniger real.
Viele von uns haben immer noch verinnerlicht: Es muss erstmal körperlich und psychisch richtig schlimm sein, bis ich darüber rede, bis ich eine Beziehung als wirklich toxisch und gewaltvoll benenne.
Wir müssen uns zusammen von dieser Vorstellung lösen und kollektiv über unsere Beziehungen und Emotionen reden. Also Verantwortung übernehmen füreinander und für die Beziehungen der jeweils anderen. Immer öfter fragen “wie geht es dir eigentlich wirklich?” Wir müssen auch Gespräche anstoßen über Emotionale Arbeit in Beziehungen „Wer macht eigentlich die Beziehungsarbeit bei euch? Wer stößt Gespräche über Beziehungsdynamiken, Bedürfnisse, die Zukunft der Beziehung, Reflexionen über Verhaltensweisen etc. an?“
In unserer Auseinandersetzung zu diesem Redebeitrag ist uns aufgefallen, dass wir an dieser Stelle auch auf die aktuelle Corona Situation eingehen müssen.
Während des Lockdowns kommt es nochmal vermehrt zu psychischer und körperlicher Gewalt in Beziehungen. Gleichzeitig fallen viele Formen von solidarischen Beziehungen und Strukturen weg. Viele wichtige Räume, in denen wir uns als FLINTA* austauschen, gibt es gerade nicht. Wir haben beobachtet, dass es uns schwer fällt in Online-Treffen oder bei Spaziergängen in der winterlichen Kälte eine Atmosphäre zu schaffen, in der wir über unsere Emotionen sprechen können. Aus Gesprächen wissen wir, dass viele gerade das Gefühl haben zu vereinzeln und neue Abhängigkeiten in Beziehungen entstehen.
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass es in dieser Gesellschaft ein Privileg ist in romantischen Beziehungen zu sein. Das zeigt sich besonders in den Corona-Maßnahmen. Bei den Kontaktbeschränkungen werden vor allem diejenigen berücksichtigt, die in hetero-monogamen Beziehungen leben. Andere Beziehungsformen, darunter auch Freund*Innenschaften, werden in den Maßnahmenkatalogen hintenangestellt und als weniger legitim und wichtig anerkannt. Das zwingt uns dazu unsere Beziehungen zu hierarchisieren. Gerade für uns FLINTA*, die in Beziehungen den Großteil der emotionalen Arbeit übernehmen, ist dies verheerend. Denn Freund*innenschaften sind oft die Räume, in denen sich um unsere emotionalen Bedürfnisse gekümmert wird und wir NICHT einen Großteil der emotionalen Arbeit allein machen müssen.
Das Patriarchat steckt tief in uns allen drin, ist in jeder unserer Beziehungen anwesend. Deshalb ist es an der Zeit gemeinsam Stigma aufzubrechen und Verantwortung dafür übernehmen, dass Gewalt nicht nur körperlich passiert. Und das Gewalt oft von den Menschen kommen kann, die uns am nächsten stehen.Wir wollen diesen Redebeitrag dazu nutzen genau das anzusprechen. Und Menschen das Gefühl geben, dass sie nicht alleine sind. Und es gleichzeitig zu einer kollektiven Aufgabe machen diese Räume, in denen wir offen und ehrlich miteinander reden können, zu schaffen.
Solidarisch füreinander da sein. Aufeinander zugehen, nachzufragen, gemeinsam reflektieren und uns gegenseitig aufklären. Denn, Das Private ist politisch! Liebe ist politisch! Beziehungen sind politisch!
Nicht nur am feministischen Kampftag, sondern jeden Tag!